Europäische Regierungen nutzen Terroranschläge in Frankreich und Wien für den Aufbau eines Polizeistaats

Die europäischen Regierungen reagieren auf die jüngsten Terroranschläge in Paris, Nizza, Dresden und Wien, indem sie die politische Agenda der extremen Rechten übernehmen. Unter dem Deckmantel des „Kampfs gegen den Terror“ haben sich führende Vertreter der EU und europäische Regierungschefs am Dienstag auf einen massiven Ausbau der „Festung Europa“, die faktische Abschaffung des Asylrechts und den Aufbau eines europaweiten Polizeistaats verständigt.

Die Arbeiten auf Regierungsebene zielten darauf ab, „unsere verschiedenen Dienste und Behörden aufeinander abzustimmen und uns besser zu koordinieren, um gegen den Terrorismus, gegen die Radikalisierung mit vielen gezielten Maßnahmen anzukämpfen“, erklärte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz und der EU-Kommissionspräsidentin und früheren deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.

Maßnahmen wie „die Interoperabilität von Datenbanken, die Verknüpfung unserer Datenbanken, die Zusammenarbeit unserer Sicherheitsdienste auch an den Außengrenzen“ seien nun genauso „konsequent umzusetzen“, wie das Vorgehen „gegen terroristische Propaganda und Hassreden im Internet“. Bereits in den kommenden Wochen solle „eine Verordnung über die Absetzung und Löschung von terroristischen Inhalten innerhalb einer Stunde verabschiedet“ werden.

Notwendig sei außerdem eine „Reform der Schengen-Regeln“. Das bedeute, „dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union stärken und besser verteidigen müssen und dass wir die Funktionsweise der Schengen-Regeln besser kontrollieren und umsetzen müssen“, erklärte Macron. Er hoffe, „dass wir bald einen echten Sicherheitsrat werden einsetzen können“.

Merkel plädierte ebenfalls für eine Verstärkung der europäischen Außengrenzen und ergänzte, dass „die deutsche Ratspräsidentschaft noch die Verordnung zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Inhalte im Internet fertigstellen“ wolle. Sie freue sich, dass die europäischen Innenminister bereits auf ihrem Treffen am Freitag „das Thema der Terrorismusbekämpfung auf die Tagesordnung setzen werden“. U.a. werde es dabei um die Überwachung von „Messenger-Diensten wie Telegram“ gehen.

Von der Leyen schlug in die gleiche Kerbe und verkündete, dass der Vorschlag zur Verhinderung terroristischer Online-Inhalte, den die Kommission 2018 eingebracht habe, „jetzt im Rats- und Parlamentstrilog abgeschlossen werden wird“. Wichtig sei dabei, „die Geschwindigkeit des Löschens solcher terroristischen Inhalte in den Mittelpunkt“ zu stellen. Es sei „ganz entscheidend, schnell zu sein“. Man werde dabei auch „die großen Internetplattformen stärker in die Verantwortung nehmen, wenn es um die Bekämpfung illegaler und schädlicher Online-Inhalte geht“. Dafür werde man schon „in wenigen Wochen den sogenannten Digital Services Act vorlegen“.

Unter dem Deckmantel des Kampfs gegen „terroristische Inhalte“ soll vor allem die Zensur linker Inhalte und Websiten ausgeweitet werden. Erst am 28. Oktober hatte der Vorstandschef des Google-Mutterkonzerns Alphabet, Sundar Pichai, in einer Anhörung vor dem US-Senat zugegeben, dass die Google-Suchmaschine die World Socialist Web Site zensiert. Mit der neuen Richtlinie werden Internetgiganten wie YouTube oder Facebook, die eng mit den Geheimdiensten und Regierungen kooperieren und linke und progressive Inhalte bereits jetzt massiv zensieren, dazu verpflichtet, gewissermaßen auf Zuruf von oben „schädliche“ Artikel, Videos oder andere Postings noch schneller zu löschen.

Um den Aufbau eines europäischen Polizeistaats zu rechtfertigen, schlachtet die herrschende Klasse die schrecklichen Terroranschläge der letzten Wochen aus und schürt Angst vor einer andauernden terroristischen Bedrohung.

„Wir haben eine ständige Gefahr unter uns. Wir haben Tausende ‚foreign terrorist fighters‘, die entweder den Kampfeinsatz in Syrien, im Irak für den IS überlebt haben und zurückgekehrt sind oder die gar nicht durchgekommen sind, weil sie irgendwo bei der Ausreise gestoppt wurden“, warnte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Es brauche deshalb „ein robusteres Vorgehen gegenüber den Gefährdern in ganz Europa“. Wenn wir „unser aller Freiheit schützen wollen, müssen wir die Freiheit dieser Menschen einschränken“.

Kurz verschwieg, dass die europäischen Regierungen gleich in mehrfacher Hinsicht die Verantwortung für die schrecklichen Terroranschläge der letzten Wochen tragen. Die tausende „foreign terrorist fighters“ sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie wurden von den imperialistischen Mächten und ihren reaktionären regionalen Verbündeten – allen voran Saudi-Arabien – in den Regimewechsel-Kriegen in Libyen und Syrien als Stoßtrupp eingesetzt. Fast alle Attentäter der größeren Terroranschläge der vergangenen Jahre waren den Sicherheitsbehörden bekannt: der Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri ebenso wie die Kouachi-Brüder, die Anfang 2015 die Büros der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo stürmten, und Kujtim Fejzulai, der Attentäter von Wien.

Die Behauptung von Kurz, den europäischen Regierungen gehe es um den „Schutz der Freiheit“ ist eine offensichtliche Lüge. Tatsächlich schützt die Politik der herrschende Klasse nicht Freiheit und Leben, sondern bringt Unterdrückung und Tod. In Folge der tödlichen Strategie der Herdenimmunität sind seit Ausbruch der Covid-19 Pandemie allein in Europa über 300.000 Menschen gestorben.

Bereits in den Jahren zuvor waren in den von der EU unterstützten neokolonialen Kriegen in Zentralasien und im Nahen Osten Dutzende Millionen Menschen getötet, verletzt oder zu Flüchtlingen gemacht worden. Im Mittelmeer sind Zehntausende ertrunken. Im Inneren setzt die herrschende Klasse auf rechtsextreme und faschistische Kräfte, um die wachsende Opposition der Arbeiterklasse und Jugend einzuschüchtern und zu unterdrücken.

Die jüngsten Maßnahmen sind Bestandteil dieser Strategie. Die Corona-Pandemie hat die weit fortgeschrittene wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Systems beschleunigt. Die herrschende Klasse spürt, dass sie auf einem sozialen und politischen Pulverfass sitzt. In den letzten Tagen und Wochen haben in Griechenland, Polen und Frankreich Lehrer und Schüler gegen die unsichere Öffnung der Schulen protestiert.

Diese Proteste sind eine Vorwegnahme von massiven Kämpfen der Arbeiterklasse, die sich gegen das gesamte kapitalistische System richten werden – auch in den USA. Dort spielen die Demokraten die faschistischen Putschpläne des abgewählten Präsidenten Donald Trump vor allem deshalb herunter und appellieren an das Militär und den Staatsapparat, weil sie eine revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse fürchten.

Dieselbe Furcht treibt auch die nominell linken bürgerlichen Parteien auf dieser Seite des Atlantiks um. In Deutschland haben sich die Grünen und die Linkspartei, die die Interessen wohlhabender Mittelschichten artikulieren, an die Spitze der Rechtswende des politischen Establishments gestellt.

Am vergangenen Wochenende wurden Auszüge aus einem sogenannten „Elf-Punkte-Aktionsplan“ des Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und der grünen Innenpolitiker Irene Mihalic und Konstantin von Notz bekannt. Das Papier liegt sprachlich und inhaltlich auf der Linie der AfD. „Islamistische Gefährder“ müssten „konsequent und engmaschig überwacht werden“, heißt es darin. Dafür sei eine Aufstockung des Personals nötig.

Die Grünen attackieren die Große Koalition und ihren notorisch rechten Innenminister Horst Seehofer (CSU) von rechts. Sie fordern, Haftbefehle gegen „islamistische Gefährder“ konsequenter zu vollstrecken und diese zügiger abzuschieben.

Auf europäischer Ebene verlangen die Grünen laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Einrichtung „eines Europäischen Kriminalamts mit eigenen Ermittlerteams, einem einheitlichen Gefährderbegriff und mehr grenzüberschreitender Zusammenarbeit der nationalen Sicherheitsbehörden“.

Das ist eine Blaupause für die Errichtung eines europaweiten Polizeistaats, in dem niemand mehr sicher ist. Nimmt man die jüngste Verschärfung des Berliner Polizeigesetzes durch den rot-rot-grünen Senat als Maßstab, kann jede Person als Gefährder eingestuft werden, die gewillt und in der Lage zu sein scheint, eine terroristische Straftat zu begehen. Damit kann jeder aufgrund einer bloßen Vermutung als „Gefährder“ eingestuft und von den Sicherheitsbehörden verfolgt werden.

Auch die Führung der Linkspartei ruft nach dem starken Staat und verbindet dies mit anti-islamischer Hetze. In einem Kommentar für das rechte Springer-Blatt Die Welt fordert der Bundestagsfraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch ein Ende der „Zweideutigkeiten und Tatenlosigkeit“ und eine „klare Reaktion der wehrhaften Demokratie“.

Darunter versteht Bartsch offensichtlich die Unterdrückung von Muslimen – u.a. plädiert er für ein Kopftuchverbot „in Kitas und Grundschulen“ (!) – und jeder Opposition gegen Rassismus und Polizeistaat. Es habe in „schockiert, dass nach den Anschlägen in Frankreich hierzulande Demonstrationen stattgefunden haben – gegen den französischen Präsidenten“, empörte er sich in der Welt.

Bartsch könnte kaum deutlicher machen, wo er und die Linkspartei im Klassenkampf stehen. Proteste gegen den „Präsident der Reichen“, der den Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain als Helden feiert und die Niederschlagung der Proteste der Gelbwesten angeordnet hat, sind für die gewendeten Stalinisten genauso tabu, wie Proteste gegen Polizeigewalt. Anfang Juni ging der rot-rot-grüne Senat in Berlin mit brutaler Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten vor, die gegen die Ermordung von George Floyd in den USA durch die Polizei protestierten. Bartsch hat sich mehrfach hinter die von rechtsextremen Netzwerken durchsetzte Polizei gestellt und erklärt, sie verdiene „nicht weniger, sondern mehr gesellschaftliche Anerkennung und mehr Personal, vor allem in der Fläche“.

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