Berlin verbietet Demonstrationen von Palästinensern

Die Versammlungsfreiheit wird in Deutschland immer rücksichtsloser unterdrückt. Vor kurzem berichtete die World Socialist Web Site über das repressive neue Versammlungsgesetz im schwarz-grün regierten Bundesland Hessen. Dabei ist Hessen keine Ausnahme. Insbesondere Berlin spielt beim Verbot von Demonstrationen eine Vorreiterrolle, was sich unter der neuen, schwarz-roten Koalition weiter verschärfen wird.

In den letzten Wochen wurden in Berlin mehrere Demonstrationen von Palästinensern verboten. Die Berliner Polizei untersagte eine für den 15. April geplante Kundgebung auf dem Hermannplatz sowie eine Demonstration durch Neukölln anlässlich des „Tages der palästinensischen Gefangenen“ in israelischen Gefängnissen am 16. April.

Plakat zur Demonstration für die palästinenischen Gefangenen, die verboten wurde [Photo by Samidoun Palestinian Prisoner Solidarity Network / CC BY-NC-SA 4.0]

Die Polizei begründete die Verbote mit der Gefahr, dass es bei den Versammlungen zu volksverhetzenden oder antisemitischen Ausrufen, Gewaltverherrlichung oder Gewalttätigkeiten kommen könnte. Insgesamt hat die Polizei Pressemeldungen zufolge vom 14. bis 16. April fünf Palästina-Demonstrationen in Berlin-Kreuzberg, -Neukölln und -Mitte untersagt.

Auch in Köln löste die Polizei am 15. April eine palästinensische Demonstration vorzeitig auf, obwohl diese friedlich verlaufen war. Im schwarz-grün regierten Nordrhein-Westfalen gilt eines der repressivsten Versammlungsgesetze von ganz Deutschland.

In Berlin hat das Verwaltungsgericht, und nach Beschwerde auch das Oberverwaltungsgericht, die Verbote gerechtfertigt. Die Gerichte veröffentlichten keine Begründung ihrer Eilentscheidungen, lediglich das Oberverwaltungsgericht gab eine knappe Pressemitteilung heraus, in der es in zwei Sätzen heißt, es seien Volksverhetzungen und Gewalttätigkeiten zu erwarten gewesen. Der Verlauf von früheren, sehr ähnlichen Demonstrationen rechtfertige eine solche Prognose der Polizei.

Die Gruppe „Palästina spricht“ kritisierte das Verbot ihrer Demonstrationen als „Angriff auf unsere Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung“. Es sei ein „alarmierender Türöffner für unbegrenzte staatliche Repression gegen jegliche Opposition in Deutschland, sei es für palästinensische Menschenrechte, Antirassismus oder Geflüchtetenrechte“.

Eine Demonstration von Palästinensern eine Woche zuvor war nach ursprünglichen Aussagen der Polizei friedlich verlaufen. Am 8. April waren mehrere hundert Menschen unter dem Motto „Freiheit für alle politischen Gefangenen in Palästina“ durch Berlin-Neukölln gezogen.

Es folgte eine massive Kampagne von Medien und Politikern. In einem auf Twitter verbreiteten Video, das Stimmung gegen die Demonstration machte, wurde behauptet, es sei dort „Tod den Juden“ gerufen worden. Tatsächlich ist auf dem Video zu hören, wie ein einzelner Mann, der nicht zu sehen ist, etwas auf Arabisch ruft, das mit der genannten antisemitischen Parole untertitelt wird. Ob die Übersetzung stimmt, ist unklar, ebenso wer der Mann war.

Klar erscheint aber, dass der Ausruf von der Menge nicht aufgegriffen wurde und weder von der Spitze der Demonstration noch über den Lautsprecher kam. Andere im Video zu sehende Sprechchöre, Plakate und Transparente („Tod Israel“, „Intifada bis zum Sieg“, „Free, free Palestine“) richteten sich gegen Israel, aber nicht gegen Juden.

Die palästinensische Organisation samidoun verurteilte die Kampagne und erklärte: „Es ist die palästinensische Befreiungsbewegung, die die Gleichsetzung von Juden mit Zionisten ablehnt, und die zionistische Bewegung, die versucht, diese Gleichsetzung zu institutionalisieren.“ Samidoun, aus deren Umfeld die Demos angemeldet worden sein sollen, ist nach eigenen Angaben ein Netzwerk für Solidarität mit palästinensischen Gefangenen, das der Organisation PFLP nahestehen soll.

Die Kampagne diente dann als Ausgangspunkt für die folgenden Demonstrationsverbote. Der Grünen-Politiker und Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, beklagte, dass die Demonstration nicht nach den ersten Parolen polizeilich aufgelöst worden sei.

Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) verteidigte die Wiedereinführung des Begriffs „öffentliche Ordnung“ ins Versammlungsfreiheitsgesetz, die CDU und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Der Begriff schaffe mit Blick auf die umstrittene Demonstration „einen größeren Handlungsrahmen“, sagte Spranger dem Tagesspiegel. Seine Wiedereinführung stütze „die Gewährleistung der Sicherheit in Berlin“.

Der Begriff „öffentliche Ordnung“ war 2021 gegen den Willen der SPD aus dem reformierten Versammlungsfreiheitsgesetz gestrichen worden. Er öffnet der Willkür Tür und Tor, indem er es Behörden erlaubt, Proteste zu beschränken oder zu verbieten, wenn sie – so das Bundesverfassungsgericht – den „ungeschriebenen“ Regeln der „herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen“ entgegenstehen.

Die Polizei reagierte schließlich mit dem Verbot sämtlicher Demonstrationen von Palästinensern für politische Gefangene am darauffolgenden Wochenende. Ihre Prognose habe ergeben, es bestehe die unmittelbare Gefahr, dass es zu volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen, Gewaltverherrlichung, dem Vermitteln von Gewaltbereitschaft und dadurch zu Einschüchterungen sowie Gewalttätigkeiten kommen würde.

Das Verwaltungsgericht segnete dies ab. Laut Tagesspiegel hieß es in seiner Entscheidung, die Polizei habe ihr Verbot überzeugend damit begründet, dass der Eilantragssteller bereits einige Demonstrationen angemeldet und durchgeführt habe, deren Motto Menschen, die „eine antiisraelische, wenn nicht gar antisemitische Grundhaltung“ aufwiesen, angezogen habe.

Von diesem Personenkreis gehe „die dargestellte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ aus. Der Antragssteller grenze sich nicht von diesen Menschen ab. Sein Antrag verdeutliche, dass er selbst „eine jedenfalls strikt antiisraelische Haltung“ einnehme, da er darin „auf eine ‚israelische Apartheid‘ an den Palästinensern als ‚Menschheitsverbrechen‘“ Bezug nehme.

Bemerkenswert am Verbot der palästinensischen Demonstrationen sind insbesondere drei Dinge:

1. Die mediale Berichterstattung klammert vollkommen aus, worum es bei den Demonstrationen überhaupt geht. Die Berichte konzentrieren sich ausschließlich darauf, die Teilnehmer zu denunzieren, weil sie gegen Israel sind, und sie als antisemitisch zu verleumden. Dabei ist die Unterdrückung der Palästinenser gut dokumentiert.

Der Jahresbericht von Amnesty International hatte Israel schon 2021 bescheinigt, palästinensische Gefangene unfairen Gerichtsverfahren vor Militärgerichten, langer Einzelhaft und unzureichender medizinischer Behandlung ausgesetzt und sie illegal aus den besetzten palästinensischen Gebieten in israelische Gefängnisse verlegt zu haben. Ende 2021 hätten sich 500 Personen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft befunden; zudem seien 170 Minderjährige inhaftiert gewesen. Über 80 Prozent der inhaftierten Minderjährigen seien geschlagen worden und 47 Prozent hätten keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand gehabt. Laut Amnesty erfüllt „das israelische System der Unterdrückung und Beherrschung der Palästinenser_innen den Tatbestand der Apartheid, der ein völkerrechtliches Verbrechen darstellt“.

Seither hat die ultrarechte Koalition Benjamin Netanjahus die Regierung übernommen und die Diskriminierung und gewaltsame Unterdrückung der Palästinenser weiter verschärft.

2. Die Entscheidung, eine Demonstration als „volksverhetzend“, „gewaltverherrlichend“ und „einschüchternd“ einzustufen, wird von Polizei und Gerichten nicht nach objektiv nachprüfbaren, sondern nach politischen Kriterien gefällt, die sich an den Interessen des deutschen Imperialismus orientieren.

Keine zwei Monate vor den verbotenen Palästinenserdemonstrationen fand in Berlin eine Demonstration ukrainischer Nationalisten zum Jahrestag der russischen Invasion am 24. Februar statt, an der neben dem ukrainischen Botschafter auch die Regierende Bürgermeisterin Berlins, Franziska Giffey, und die US-Botschafterin Amy Gutmann teilnahmen. Bundeskanzler Olaf Scholz richtete eine Videobotschaft an die Demonstration, das Brandenburger Tor wurde in den ukrainischen Nationalfarben angestrahlt.

Diese Demonstration hätte mit größerer Berechtigung als „volksverhetzend“, „gewaltverherrlichend“ und „einschüchternd“ eingestuft werden können. Sie denunzierte Russland als „Terrorstaat“, lehnte Friedensverhandlungen ab, forderte weitere Waffenlieferungen und skandierte die traditionelle faschistische Grußformel Sláva Ukrayíni, Ruhm der Ukraine, Heróiam sláva, Ruhm den Helden.

Wer von den Demonstranten mit Russland in Verbindung gebracht wurde, musste mit Beleidigungen („Ihr seid Mörder“) und Bedrohungen („Verpisst euch ihr Faschisten“) rechnen, wie aus einer Reportage der Berliner Zeitung hervorgeht.

3. Die Demonstrationsverbote und die geplante Verschärfung des Versammlungsgesetzes durch den Begriff „öffentliche Ordnung“ bedeuten einen drastischen Angriff auf das demokratische Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.

Demonstrationen können willkürlich aufgelöst und verboten werden. Übergriffe oder Äußerungen einzelner Teilnehmer reichen dafür aus. Dabei ist bekannt, dass V-Leute oder verdeckte Ermittler von Geheimdiensten und Polizeikräften als Provokateure auftreten.

Dass der angebliche Kampf gegen Antisemitismus dabei nur vorgeschoben ist, zeigt sich an der staatlichen Unterstützung für hasserfüllte Demonstrationen rechter ukrainischer Nationalisten, die in einer langen Tradition von Faschismus und Antisemitismus verwurzelt sind.

„Jüdische und israelische Berliner*innen“ haben am 21. April in einem offenen Brief gegen diese Willkür protestiert. Ein „pauschales Verbot“ aufgrund der bloßen Befürchtung, es könne bei einer Demonstration zu Straftaten kommen, heißt es darin, „sehen wir als diskriminierend gegenüber der palästinensischen Minderheit in Deutschland und als besorgniserregenden Präzedenzfall, der unweigerlich auch andere marginalisierte Communities betreffen wird. Solche antidemokratischen Maßnahmen kommen einer kollektiven Bestrafung gleich und bieten uns als jüdische Berliner*in­nen keinen wirksamen Schutz.“

In Berlin war am 8. Mai letzten Jahres, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, das Zeigen der sowjetischen Fahne – unter der nicht zuletzt Auschwitz befreit wurde – an sowjetischen Ehrenmälern polizeilich verboten worden. Kurz darauf folgte das Verbot aller palästinensischen Demonstrationen zum Nakba-Tag.

Wenige Monate später verschärfte der Bundestag den Volksverhetzungsparagraphen; nun droht jedem eine Strafe, der angebliche Kriegsverbrechen eines gerade dämonisierten Landes in Frage stellt. Im Januar wurde der Friedensaktivist Heinrich Bücker verurteilt, weil er sich in einer öffentlichen Rede gegen die deutsche Kriegspolitik in der Ukraine wandte.

Während weltweit immer breitere Schichten der Bevölkerung gegen Ausbeutung, Ungleichheit, Unterdrückung und Krieg in Bewegung geraten, entwickelt die herrschende Klasse ihren Unterdrückungsapparat, um Proteste zu kriminalisieren und zu unterdrücken.

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